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„Post-Covid“: Beratungsanfragen in der Caritas-Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern:Zwischen Panikattacken und Perspektivlosigkeit

Corona? Das ist kaum noch ein Thema. Andere Krisen haben die Pandemie überlagert. Gleichwohl sind die Auswirkungen der Corona-Pandemie tief in der Gesellschaft verankert.
Beratung
Datum:
12. Juni 2024
Von:
Christian Bödding

Dieter Homann, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern des Caritasverbandes Ahaus-Vreden und Peter Schwack, Vorstand des Ressorts Soziale Dienste im Caritasverband, geben Einblicke in die aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen.
„Auffällig war und ist, dass häufig nicht mehr erzieherische Fragen im Vordergrund einer Beratungsanfrage stehen“, erklärt Dieter Homann. Stattdessen gab und gibt es immer mehr Fragen zu psychischen Belastungen wie Angststörungen, Panikattacken, Perspektivlosigkeit, Verlustängsten und sozialen Phobien. 

Psychische Auffälligkeiten

Auch seien vermehrt jüngere Kinder mit psychischen Auffälligkeiten in der Beratungsstelle angemeldet worden. Dieter Homann geht davon aus, dass die Belastungen mit der Corona-Pandemie zu tun haben. „Soziale Kompetenz ist nicht virtuell erlernbar. Es gab für die Kinder und Jugendlichen keine sozialen Kontakte in Präsenz mehr. Sie waren nur noch digital mit Freunden zusammen.“ Kinder gerieten aus dem Blick der Fachkräfte in Schulen, Kitas und Freizeitstätten. Eine Generation von Kindern, die Gewalt und Vernachlässigung länger aushalten musste, bevor irgendwann die Systeme wieder griffen. Hinzu kommt: Das Homeschooling während der Pandemie führte oftmals zu Defiziten bei der Informationsaufnahme und der Bewältigung der schulischen Arbeit. „Die persönliche Förderung kann ja kaum stattfinden, wenn ich als Lehrer nur 20 Gesichter auf einem Bildschirm sehe.“ Peter Schwack ergänzt: „Im häuslichen Kontext gab es unterschiedliche Rahmenbedingungen und Kinder wurden unterschiedlich gefördert. Manche sind deutlich abgehängt worden, je nachdem, wie die Unterstützung zu Hause aussah.“

Dabei gingen in der Anfangszeit der Pandemie, mit Einführung von Kontaktsperren und Homeschooling, die Anfragen an die Fachkräfte für Kinderschutz zurück. Dieter Homann: „Das hat sicher auch damit zu tun, dass vieles nicht auffällig wurde, weil das System Schulsozialarbeit zu der Zeit gar nicht funktionierte. Wenn wir die Zeit nach Corona sehen – wenn wir diese Zeit tatsächlich schon haben – da gehen die Zahlen steil nach oben.“ Seit 2022 gibt es beim Caritasverband die spezialisierte Beratung bei sexualisierter Gewalt – und erstaunlich viele Beratungsanfragen. „Das kann unterschiedliche Gründe haben. Von der Enttabuisierung der Thematik bis hin zu der Situation, dass immer mehr Kontrollsysteme wie die Schulsozialarbeit greifen.“

"Beziehungskrisen"

Die Pandemie habe sicherlich auch zu vermehrten Stresssituationen im häuslichen Umfeld beigetragen. Stichwort „Beziehungskrise“. Mit den Schulschließungen und dem Lockdown war die gesamte Familie von heute auf morgen den ganzen Tag zusammen. „Konflikten konnte man nicht mehr aus dem Weg gehen“, erläutert Dieter Homann. „Das war in Corona nicht nur für drei Tage der Fall, sondern für Wochen und Monate. Familien mussten in Mehrfamilienhäusern in Wohnungen ohne Balkon auf engstem Raum Tag und Nacht miteinander verbringen. Da lernt man ganz andere Seiten auch in der Partnerschaft kennen.“

Peter Schwack vergleicht: „Wenn ich fasten möchte, ist das nett. Aber wenn man mir sagt: Du darfst nichts mehr essen – dann ist das etwas völlig anderes. Dann entwickele ich viel mehr Hungergefühle, als wenn ich freiwillig faste.“ Im Lockdown seien viele Freiheiten beschnitten worden. Hinzu komme, welche Förderung ein Kind oder Jugendlicher im häuslichen Umfeld erfahre. „Wie viel Sicherheit mir ausgestrahlt wird und welche Perspektiven ich entwickeln kann.“

Lebenswünsche

Die Generation Z (Personen, die zwischen 1997 und 2012 zur Welt gekommen sind) leide heute vermehrt unter Ängsten und Perspektivlosigkeit. Das Zurückbleiben hinter eigenen Lebenswünschen spiele dabei eine Rolle. „Es kommen viele Dinge zusammen“, sagt Dieter Homann. „Nicht nur Corona, sondern beispielsweise auch der Krieg in der Ukraine und die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation. Jugendliche fragen sich, wo das alles hinführt und wie die Welt von morgen wohl aussehen wird und ob die Welt von morgen noch lebenswert ist.“ Eine Krise reihe sich an die nächste. Peter Schwack: „Vor Corona stand die Klimakrise mehr im Vordergrund. Die Bewegung Fridays for Future rückte durch die Pandemie in den Hintergrund. Dann kam der Ukraine-Krieg.“ Es sei nicht leicht, mit Blick auf das Geschehen eine positive Perspektive zu entwickeln.

Dabei hat Corona auch die Arbeit im Sozialen Dienst ganz allgemein verändert. Neue Anforderungen, beispielsweise die Online-Beratung und die Videotelefonie, kamen für die Mitarbeitenden in der Beratungsstelle hinzu. Peter Schwack: „Es galt, die Arbeit unter neuen Rahmenbedingungen, mit neuen technischen Herausforderungen zu meistern.“ Um die gestiegene Nachfrage nach Beratung bewältigen zu können, wurden in der Beratungsstelle zwei neue Kolleginnen eingestellt und im vergangenen Jahr eine weitere Vollzeitstelle geschaffen. Dennoch: „Die Versorgungslücke bei Psychotherapeuten ist ein großes Problem“, erklärt Peter Schwack. Es gibt von der Psychotherapeutenkammer zugewiesene Plätze je Region, die aber in der Regel ausgereizt sind. „Die Kollegen in unserer Beratungsstelle haben fast alle therapeutische Zusatzqualifikationen. Sie klären erst einmal ab, ob längerfristige therapeutische Hilfe erforderlich ist. Ist das der Fall, überbrücken sie mit ihrer Beratung auch Wartezeiten, bis die Personen regelmäßige therapeutische Unterstützung bekommen.“ 

Ein dichtes Netz der Gesundheitsversorgung und ausreichende personelle Ressourcen in den Beratungsstellen sind dringend notwendig, um die langfristigen Folgen der Pandemie zu bewältigen. Denn: Covid ist nicht Vergangenheit. In den Krankenhäusern werden nach wie vor Infizierte behandelt, in Reha-Einrichtungen Menschen nach Infektionen beziehungsweise mit Long-Covid betreut. In den Caritas-Beratungsstellen macht sich nach wie vor bemerkbar, welche schwerwiegenden, auch finanziellen Folgen, die Pandemie für viele Menschen hatte.

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